Ich war mir nicht sicher, ob mein Senf hier für irgendwen interessant oder hilfreich sein würde, aber da ich mehrfach gefragt worden bin, hinterlasse ich ein paar Absätze.
Ich bin etwa 5 Tage vor dem Angriff aus Russland ausgereist. Die Ukraine war kein Thema, das ich gezielt angesteuert habe. Trotzdem habe ich Aussagen dazu von etwa 10 Menschen meines Alters (+/- 10 Jahre) bekommen. Alle sprachen genug englisch, um sich mit mir darüber austauschen zu können. Das ist also sicher schonmal eine Vorauswahl. Jedenfalls gab es ein recht einheitliches Meinungsbild.
Russische Propaganda in den Medien ist äußerst lächerlich. Als Beispiel wurde mehrfach eine Werbung angeführt, in der Freiheit gleich gesetzt wurde mit schwulen Eltern, die ihr unwilliges Kind dazu zwingen ein Kleid anzuziehen. Es wird im Fernsehen gern mal über Schweden hergezogen. Das meiste dreht sich aber um die USA und wie schlecht dort alles ist. Man kann es sich auf Fox-News-Niveau vorstellen. Eventuell eher noch darunter. Trotzdem funktioniert es für einen gewissen Teil der Gesellschaft. Bei den Jüngeren tendenziell weniger, weil die andere Informationskanäle im Netz haben(/hatten). Die sind jedoch entweder entmutigt wegen erwartbarer Repression bei politischem Engagement oder unpolitisch. Vielleicht hat das den gleichen Grund. Mir wird berichtet, dass man gern mal kollateral festgenommen wird, wenn man am gleichen Tag wie eine Demo auf der Straße ist. Die meisten schämen sich für die Regierung.
Ich habe auch mit Menschen gesprochen, die Verwandtschaft in der Ukraine haben oder selbst einen zweiten Pass. Von denen findet niemand, dass es ein Teil Russlands sein sollte. Die Krim-Annektion war schon verstörend genug. Nicht zuletzt, weil man seitdem bei einer Reise zur Krim mit russischem Pass nicht mehr einfach nach Resteuropa weiterreisen darf. Der Krieg fühlt sich für meine Kontaktpersonen inetwa so grotesk an, wie für mich. Es gab eine diffuse Angst vor dem Krieg, aber wirklich erwartet hat ihn zum Zeitpunkt meiner Abreise zumindest niemand den ich traf.
Ein Kontakt schreibt mir, dass ihre Facebookseite recht bald nach dem Angriff schon keine Bilder und Videos mehr anzeigte und dass sie sich nach einem VPN umsieht. Ich zitiere mal eine Nachricht frei übersetzt (jetzt beim Tippen ist die Botschaft eine Woche alt): “Meine Oma kommt aus der Ukraine und hat den zweiten Weltkrieg überlebt. Es klingt vielleicht furchtbar, aber ich bin froh, dass meine Großeltern, die im zweiten Weltkrieg gekämpft haben, schon tot sind und diese Schande nicht miterleben müssen.” Ich habe ein paar repräsentative Tagesschauartikel als Bild für das deutsche Medienecho geteilt. Sie freut sich, dass zwischen russischer Regierung und Bevölkerung unterschieden wird.
Insgesamt wird mein Blick auf die Lage ganz gut vom deutschen Medienecho gespiegelt. Praktisch niemand will den Krieg. Auch in Russland nicht. Deswegen darf man es ja auch nicht »Krieg« nennen. Die “Überzeugungsarbeit” wird jetzt im Nachhinein in alle Kanäle gespült und Quellen öffentlichen Widerspruchs werden eingeknastet.
Ich hätte euch allen gern einen Besuch am Baikalsee empfohlen. Leider scheint die nächste Möglichkeit dazu gerade nicht so bald wieder zu kommen.
Auf Wiedersehen Russland!

Zusatzparagraph vom 07.03. mit Einzelperspektive nach langer Unterhaltung mit einer Russin in Thailand. Die Reaktion fühlt sich allerdings eher nicht nach Unterscheidung zwischen Regierung und Bevölkerung an. Eine Analogie wurde mir gegenüber angebracht. Mit Putin als Präsidenten fühlt man sich wie als Frau mit einem gewalttätigen Ehemann, der jetzt anfängt die Nachbarn mit anzugreifen. In der Nachbarschaft wird die Frau jetzt mit in Sippenhaft genommen. Sie hätte sich ja schon viel früher wehren können. Ironischer Weise bekommt sie für ihre Lage am meisten Verständnis von Menschen aus der Ukraine. Die Oligarchen seien das angemessene Ziel. Getroffen von den Sanktionen werden sowohl alle Menschen im Land, als auch die, die das Land verlassen haben und außerhalb davon arbeiten. Als Russin im Ausland hat man keinen Zugriff auf das eigene Geld.
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