Hoppla, ich bin doch nochmal losgereist und nach Japan gestolpert. Fluggutscheine und eine äußerst glücklich datierte Wiedereröffnung des Landes machten es im Oktober möglich.
Ich komme früh an und nehme die Bahn in die Stadt. Während der langen Fahrt im vollen Pendlerzug räume ich meinen Platz für einen älteren Mann, dessen Frau sich auf den freien Platz neben mich gesetzt hat. Nach einer Weile im Stehen zupft es an meiner Jacke. Ein Platz gegenüber wird frei, worauf mich der Mann aufmerksam macht, aber andere Menschen kommen mir bereits zuvor. Noch etwas später stößt eine Frau zu den beiden, welcher ich die Rolle der Tochter zuschreibe. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass auf mich gedeutet und damit die Geschichte meiner noblen Tat weitergetragen wird. Als es schließlich an der Zeit für mich ist auszusteigen, werde ich freundlich verabschiedet, alle drei bedanken sich und es werden viele freundliche Blicke und Verbeugungen ausgetauscht. Ein positiver erster Eindruck auf beiden Seiten ist wohl gelungen.
Angekommen im richtigen Stadtviertel – Shibuya – spaziere ich in einen Park, um dort auf meine Zeit zu warten, die Unterkunft zu betreten. Parks scheinen oft mit Tempelanlagen verbunden zu sein.
Eins der ersten Dinge, die mir bei der Ankunft auffallen, ist der Geruch. Die Metropolregion Tokyo-Yokohama ist der größte Ballungsraum der Welt und mitten im Zentrum riecht es nach einer Mischung aus süßlich-harzigem Waldduft mit einer Prise Meer. Desweiteren ist es unerwartet leise.
Flüsterasphalt, Meeresnähe, Parks und eventuell die Blütezeit einer verantwortlichen Pflanze spielen dabei sicher eine Rolle. Insgesamt aber, so scheint es mir, bewirkt die gesellschaftliche Einstellung zum Verkehr diese positiven Nebeneffekte auf meinen Wahrnehmungsapparat. Nicht nur Tokyo, sondern das ganze Land ist vom Schienenverkehr geprägt. Der nächste Bahnhof ist nie weit. Züge fahren überall, kategorisch pünktlich und alle paar Minuten. Das gilt für Nah- und den schnellen Fernverkehr. Trotz der hohen Taktung ist es immer gut gefüllt. Es gibt ergänzend sehr viel Fußverkehr, soweit es das Gelände zulässt etwas Radverkehr und dafür sehr wenige Autos.
Öffentlicher Raum ist wertvoll. Mir wird erklärt, dass es daher einen anderen Ansatz zum motorisierten Individualverkehr gibt. Wenn man sich ein Auto kaufen möchte, muss man vorweisen, welchen Parkplatz man dauerhaft für das Fahrzeug bereitstellen kann. Es kommt jemand vorbei, der diesen Parkplatz in drei Dimensionen ausmisst und anhand der Messung bekommt man eine Liste von Autos, die man sich kaufen darf. Ein witziger Nebeneffekt davon ist, dass es einige Automodelle japanischer Hersteller gibt, die dem Ideal des vollumfänglich volumenausschöpfenden Quaders recht nahe kommen.

Ich vermute, für die wenigen verbliebenen Autos gibt es sehr teure Parkhäuser. Straßen und Fußwege werden jedenfalls vornehmlich als Verkehrsfläche genutzt. Recht häufig sieht man fußläufigen Transport von Gütern, ab und an mit Sackkarre. Regelmäßig sieht man Ordnungspersonal, das nur dafür da ist, den Fußverkehr zu regeln. Das Bild der vollen Kreuzung, die in alle Richtungen gleichzeitig zu Fuß überquert wird, kennen ja viele. Es gibt mehrere von diesen Kreuzungen, denn der Anblick ist eine logische Konsequenz der Einstellung zum öffentlichen Raum.
Meine Interpretation der Lage ist wie folgt. Wohnungen sind klein und teuer. Ein Großteil des Lebens findet außerhalb der eigenen vier Wände statt. Transport, Arbeiten, Essen und Feierabendbeschäftigungen sind auf eine Art immer irgendwie in Öffentlichkeit. Der Raum wird daher in bester alle-in-einem-Boot-Manier angenehm gestaltet und gepflegt. Trotz fehlender Mülleimer liegt nirgends Müll. Imbissgelegenheiten und Trinkbrunnen bieten sich an jeder Ecke. Öffentliche Toiletten sind nie weit, sauber und natürlich überall kostenlos. Regenschirme sind Leihgut. Es gilt öffentliches Rauchverbot und es gibt ab und zu öffentliche Rauchzonen, welche auch genutzt werden. Die Rauchquelle wendet sich im gegebenen Fall von Vorbeigehenden ab. Ich habe in knapp vier Wochen im Land nicht einen unsachgemäß entsorgten Zigarettenfilter gesehen. Im Übrigen ist es sehr sicher.
Tagsüber sieht man wegen einer klassischen Rollenaufteilung deutlich mehr Frauen auf der Straße. Nachts ist das Bild dann ausgeglichen. Wie man mit ausreichend Jetlag erfährt, ist man auch mitten in der Nacht selten allein auf der Straße.
Mit meiner Körperlänge bin ich hier zwar ein wandelnder Leuchtturm, aber zumindest was den Fortbewegungsmodus angeht, mische ich mich unter die Menschen und erkunde wie gewohnt alles zu Fuß. An meinem ersten ganzen Tag lande ich beim Wandern im Garten des Kaisers, jedenfalls im öffentlichen Teil davon, denn der Palast wird tatsächlich noch bewohnt. Die gesamte Anlage ist von Wassergräben umgeben. Im Garten wird eine höchst gepflegte Rasenfläche durch kurvige Hauptwege aufgetrennt, sowie mit verschiedenen Bäumen und Hecken verziert. Seitenwege führen durch hügelige bambus-kiefer-mischwald-artige Abschnitte, die zusammen mit grauem Mauerwerk alles einrahmen. Natürlich gibt es eine Teichanlange mit Kois. Auffällig ist für mich ein Abschnitt mit alten Obstbaumsorten, die der Kaiser nach Eigenangaben zu Bildungszwecken für das Volk hat pflanzen lassen. Die Bäume hängen voll mit reifem Obst. Es gibt weder Zaun noch Hinweisschilder und Menschen laufen zwischen den Pflanzen hindurch ohne sich zu bedienen.
Andere Tageswanderziele sind für mich ein großflächiges Friedhofsgebiet, die Uni Tokyo und ein recht touristischer Markt in Asakuya. Dort fällt mir erstmals bewusst der Zugang zu Ausgehkleidung auf. Uniformen, etwa für Arbeit und Schule sind generell verbreitet. Der westliche Anzug für’s Büro gehört auch dazu. Bei Ausflügen zu traditionsreichen japanischen Orten wird gern die Gelegenheit genutzt, Fotos im Kimono von sich zu sammeln. Aber auch Szenekleidungen und niedliche tiernachbildende Mützen gehören in das gepflegt abgestimmte Äußere.
Überhaupt gibt es einen anderen Stellenwert von Niedlichkeit. Die Geschichte von kawaii ist spannend. In den 70ern und 80ern war es, unter anderem in Form niedlicher Handschrift, ein Protestakt von Schülerinnen, der sich gegen das altmodische akademische und gesellschaftliche System richtete. Der Markt hat die sich bietende Monetarisierungsmöglichkeit durch niedliche Produkte natürlich ausgeschlachtet und den ursprünglichen Sinn ausgehöhlt. Heute gibt es Ausprägungen von kawaii bei jeder Konsumgelegenheit, in öffentlichen Informationsanzeigen und nicht zuletzt in der Alltagsmode.
Ziemlich niedlich ist es auch im Katzencafé. Der Aufenthalt dort wird nach Verbleibedauer abgerechnet. Den Betrag entrichtet man vor der Ein- bzw. Ausgangsgangstür an einem Automaten. Dafür sind im Café alle Getränke, welche man sich aus weiteren Automaten ziehen kann, umsonst und der Tagespreisdeckel wird nach 2 Stunden erreicht. Drinnen gibt es eine gut sortierte Mangasammlung, Sofas, Sessel, Massagestühle, Brettspiele, gedimmtes Licht und natürlich Katzen. Ein Poster stellt letztere namentlich vor. Sie kommen aus dem Tierheim und stehen zur Adoption frei.
Weniger niedlich, aber noch mehr durchgestylt sind teamLab-Ausstellungen. Wer eine solche besucht, bekommt unabhängig von den Extrapunkten für die eigene Medienpräsenz eine ziemlich gut erdachte und umgesetzte Erfahrungswelt zum Durchlaufen. Im teamLab Planets Tokyo geht man wegen verschiedener Wasserinstallationen barfuß durch die Gänge. Es wird mit Gerüchen, vielen Spiegeln, Pflanzen, LEDs, Hindernissen verschiedener Konsistenzen und interaktiven Elementen gearbeitet. 2024 soll übrigens in Hamburg eine weitere Ausstellung eröffnen.
Meine Einträge enden oft ohne abschließende Worte.
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